Milo Raus Diskursoper
Milo Raus Diskursoper "Justice" eröffnete die Tangente: Die Verarbeitung eines Tanklasterunglücks im Kongo, das neokoloniale Strukturen bloßlegte.
Carole Parodi

Im November 2019 saß der Schock bei der gut geölten niederösterreichischen Kulturmaschinerie tief: Nicht das mit viel Selbstbewusstsein und Landesmillionen im Rücken ausgestattete St. Pölten erhielt den Zuschlag als Europäische Kulturhauptstadt, sondern das als Underdog gestartete Bad Ischl mit dem Salzkammergut. Die St. Pöltner Pläne, immerhin von Stadt-SPÖ und Landes-ÖVP in Einhelligkeit vorangetrieben, waren allerdings bereits so weit fortgeschritten, dass es kaum noch ein Zurück gab.

Als Ersatz wurde die Tangente geboren – ein "Festival für Gegenwartskunst", das am Dienstag eröffnete und bis 6. Oktober 250 Veranstaltungen aus allen Sparten im Programm hat. Mit 17 Millionen Euro Budget schlägt das Projekt noch die Wiener Festwochen (zwölf Millionen). Einmalig soll die Tangente in dieser Form stattfinden, die hiesige Szene mit der internationalen "vernetzen und neue Impulse setzen", wie es heißt. So wirklich auf Gegenliebe stieß die Idee bei der lokalen Szene nie, infrastrukturell wird immerhin eine restaurierte Synagoge als Gedenkort und der schmucke Neubau Kinderkunstlabor übrigbleiben.

Trojanische Pferde

ÖVP-Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner beschrieb ihre Motivation damit, "einen Dialograum" schaffen zu wollen. Gerade in der aktuellen herausfordernden Zeit sei "ein Dialog, der auf Wertschätzung und Respekt aufgebaut ist, von großer Bedeutung". Freilich, ließe sich anfügen, folgte die einen Tick zu offensiv ausgetragene Bewerbung um die Kulturhauptstadt auch dem Ansinnen, St. Pölten imagemäßig und touristisch nach vorne zu bringen.

Dagegen sendeten nun ausgerechnet die federführenden Künstler der Tangente-Eröffnung ihre Störsignale, als Trojanische Pferde sozusagen: Die spanische Autorin Cristina Morales bezeichnete sich in ihrer Eröffnungsrede gar als "Feindin" ihres "Arbeitgebers", der Tangente-Veranstalter (Die gekürzte Rede finden Sie hier). Angelehnt ans anarchistische und marxistische Theoriegebäude wetterte sie gegen "Kulturindustrie" und "Neoliberalismus", dem heute allzu oft politisch Vorschub geleistet würde.

Im Festspielhaus brachte anschließend Wiener-Festwochen-Chef Milo Rau seine Oper Justice - DER STANDARD berichtete bereits im Jänner darüber - zur Aufführung. Um Trauerbewältigung und Geißelung westlichen Gewinnstrebens geht es auch hier. Morales’ Rede und Raus dokumentarische Verarbeitung eines neokoloniale Strukturen bloßlegenden Tanklaster-Unglücks im Kongo mögen der nach guter Laune lechzenden NÖ-Kulturpolitik Irritation verschafft haben. Irgendwas muss man aber doch richtig machen: Denn das Publikum applaudierte begeistert. (Stefan Weiss, 1.5.2024)